Neuer Wind in alten Mauern – Willy Trott und der Jena-Plan

Die Heimschule unter Willy Trott

Zweiter Heimleiter wurde am 1. Februar 1948 Willy Trott. Er gehörte zu einem Kreis von Reformpädagog*innen, die an der Universität in Jena bei Peter Petersen Pädagogik studiert haben. Dieses Konzept ist nach dem Hochschulort Jena, als Jena-Plan benannt worden. Häufig fanden auf der Burg Tagungen, Hospitationen und Fortbildungen für Lehrerinnen statt, um dieses neue Schulkonzept bekannt zu machen. Willy Trott war auch mehrfach Referent auf internationalen Tagungen, um den Jena-Plan bekannt zu machen.

Porträtfoto Willy Trott, Schenkung Heidi Hoyer geb. Trott

Der Jena – Plan und seine Umsetzung in der Heimschule

Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg suchten Reformpädagogen nach neuen Wegen in der Schulpolitik. Nach der Gleichschaltung und Indoktrination aller Erziehungseinrichtungen während der Nationalsozialistischen Diktatur gab es eine elementare Frage:

„Wie soll die Erziehungswissenschaft beschaffen sein, in der und durch die ein Mensch seine Individualität zur Persönlichkeit vollenden kann?“ 1)

Eine praktische Antwort fand man im sog. Jena – Plan, ein Schulentwicklungskonzept, das schon 1927 von dem Pädagogen Prof. Dr. Peter Petersen erarbeitet wurde.

Das Konzept entstand an der Universität Jena (daher der Name), an der er 1923 den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften übernommen hatte. Für ihn bedeutete „der Jena – Plan …eine Ausgangsform für neues Schulleben.“ 2)

Kerngedanken dieses Reformpädagogischen Ansatzes waren

* selbstständiges Arbeiten

* gemeinschaftliches Zusammenarbeiten und Zusammenleben

* Mitverantwortung der Schüler*innen

Das hatte, verglichen mit herkömmlichen Erziehungsmodellen, erhebliche Auswirkungen auf das Schulleben. Es revolutionierte quasi den Schulalltag.

In der Heimschule Burg Neuhaus wurde kurz nach der Gründung dieses neue Schulentwicklungskonzept eingeführt und fand schon bald überregionale Beachtung. Ein Schüler Peter Petersens, Willy Trott, seit 1948 Heimschulleiter auf Burg Neuhaus, war zusammen mit seiner Kollegin Frau Irmgard Stapp (verh. Löding) Motor dieser Entwicklung. Er machte Neuhaus zum Mekka der Reformpädagogen, Professoren und Studenten, wie unsere Archivalien belegen. Hospitationen und Symposien fanden regen Zulauf auf der Burg. Selbst der „Altmeister“ Petersen weilte mehrere Tage im Oktober 1950 in Neuhaus und zollte dem Heimleiter und seinen Mitstreitern hohen Respekt, Anerkennung und Dankbarkeit.

So ist es überaus verständlich, dass der Tod Petersen schon zwei Jahre später eine große Trauer unter seinen Gefolgsleuten auslöste.

Für die Flüchtlings- und Waisenkinder, die heimatlos und traumatisiert auf der Burg Neuhaus ein neues Zuhause fanden, hatte dieses neue Schulkonzept, das gemeinschaftliches Zusammenleben und Gruppenarbeit förderte, geradezu therapeutische Wirkung.

Hier wurde konsequent ein wichtiges Basisprinzip des Jena-Plan-Konzeptes umgesetzt:

„Jeder Mensch hat ungeachtet seiner ethnischen Herkunft, seiner Nationalität, seines Geschlechtes, seines sozialen Umfeldes, seiner Religion, seiner Lebensanschauung oder seiner Behinderung das Recht, eine eigene Identität zu entwickeln, die durch ein größtmögliches Maß an Selbständigkeit, kritischem Bewusstsein und sozialer Gerechtigkeit gekennzeichnet ist.“ 3)

Umgestaltung des Schullebens

Die grundlegende Einheit ist nicht mehr die Jahrgangsklasse, sondern die „Stammgruppe“, die jahrgangsübergreifend zusammengefasst wird. So wird zum Beispiel das Helfersystem unter den Schüler*innen gestärkt. Sie arbeiten nach einem „Wochenarbeitsplan“ statt des üblichen 45-Minuten-Rasters, das Petersen als „Fetzenplan“ 4) bezeichnet. Statt Zensuren gibt es Arbeits- und Leistungsberichte mit klaren Bewertungsmaßstäben.  Das „demütigende Sitzenbleiben5) findet in diesem Schulkonzept keine Anwendung.

Aber schon äußerlich erhielt der neue Stundenplan der Neuhäuser Heimschule eine andere Struktur, indem die Schulwoche an jedem Montag mit einer Morgenfeier begann, die von den Lehrkräften zusammen mit den Schüler*innen im sog. Rittersaal gestaltet wurde. Diese Montagsstunden förderten das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein, wie die Lehrerin Irmgard Löding, geb. Stapp betonte.   

Rechenunterricht

Der Schüler Norbert K. gibt uns einen Eindruck von diesem Ritual in seinem Schultagebucheintrag vom 9. Februar 1948. 6)

Entsprechend zur Montags- und Morgenfeier gab es auch Wochenschlussfeiern und immer wieder anlassbezogene Feste.

Der Schulraum

Die Schüler*innen haben nach den Vorstellungen Petersens großen Einfluss an der Mitgestaltung des Schulraumes, der sogenannten, Schulwohnstube´. „So umfasst die Ausstattung des Klassenraumes Tische und Stühle, die, leicht beweglich, im Raum auch von den Schülern selbst, je nachdem, wie es die ,pädagogische Situation´ erfordert, geordnet und auch nach draußen getragen werden können.“7)

Um diese räumliche Ausstattung auch in Neuhaus realisieren zu können, nahm Heimleiter Willy Trott Kontakt mit der Schulmöbelfirma CASALA auf, die zunächst einen Schulraum mit Tischen und Stühlen ausstattete. Die Überlassung der Möbel erfolgte kostenlos als Demonstrationsmobiliar. Dafür musste Trott einen Bericht über die Erfahrungen mit den kleinen und flexiblen Tischen schreiben und Interessenten die Schulmöbel im laufenden Unterrichtsbetrieb zeigen.

Während zu dieser Zeit in den meisten Volksschulen der benachbarten Dörfer die Schüler*innen noch in beengten Schulbänken dem Frontalunterricht folgen mussten, saßen und arbeiteten die Neuhäuser Heimkinder schon an Gruppentischen, diskutierten im Gesprächskreis oder referierten ein gewähltes Thema in der Runde ihrer Mitschüler*innen.

Flexibler Unterricht

Die Flexibilisierung des Unterrichtes ermöglichte auch den Projektunterricht, der an einem Beispiel kurz erläutert werden soll. Die Schüler*innen  wurden zunächst theoretisch an geografische Grundbegriffe und den Umgang mit Karten und Globus herangeführt. Im nächsten Schritt planten sie das anspruchsvolle Projekt „Schichtenmodell“ (Darstellung der Höhenunterschiede mit Sperrholzteilen) und setzten es praktisch  am Beispiel der Gemeinde Neuhaus um.

Für ein anderes Projekt: „Doktor Faust“ wurden während des Textilen Gestaltens Kleider für eigens gebastelte Kasperpuppen genäht. Für die Lehrkräfte brachte diese Unterrichtsform viel Arbeit, weil sie möglichst vielfältiges Material bereitstellen mussten; außerdem auch täglich die Ausarbeitungen durchzusehen hatten. Aber die Ergebnisse waren zumeist so positiv, dass diese Form des Unterrichts den Schwerpunkt des Schulalltags bildete.

Lernen braucht Bewegung

Der Klassenraum bietet auch genügend Bewegungsfreiheit, damit die Schüler*innen je nach Unterrichtseinheit in den Gruppenarbeitsphasen ihre Plätze problemlos wechseln können.

„Jedes Kind geht vollkommen frei ein und aus und verantwortet seine Freiheit vor der Gruppe. Bewegung ist die Nahrung des wachsenden kindlichen Körpers; ihre Unterbindung Verbrechen an seiner Gesundheit“ 8), wird ein Kollege Petersens zitiert.

Wie verantwortungsbewusst die Heimschüler*innen trotz der Freiheiten miteinander umgingen, bestätigt ihr Heimleiter Willy Trott (1953) : „Ich selbst unterrichte ja und kann meine 40 Kinder vom 5. -8. Schuljahr, wenn es sein muss, 3 Stunden ohne Aufsicht sich selbst überlassen. Vorausgesetzt, dass sie wissen, was sie zu tun haben und dass sie keine besonderen Schwierigkeiten im Arbeitsweg haben, arbeiten sie diese 3 Stunden in Ruhe und Ordnung. Sehr wesentlich ist die eigene Haltung der tonangebenden Kinder.“ 9)

Aber auch in den Pausen und im außerschulischen Unterricht sind die Bewegung und der Aufenthalt an der frischen Luft unverzichtbar. Hierzu laden die Burg Neuhaus, der große Burghof mit der ausladenden schattenspendenden Eiche, der Burgpark und die vielen Teiche reichlich ein.

Des Weiteren steht die Turnhalle bei jedem Wetter für gymnastische und mannschaftssportliche Übungen zur Verfügung: ideale Bedingungen für „bewegten Unterricht“ und Gemeinschaftsleben.

Übungen in der Turnhalle

Nach dem Unterricht und dem Mittagsessen werden die Hausaufgaben in den Gruppenräumen angefertigt. Die Erzieher*innen unterstützen bei Bedarf.

Überregional hat das Erziehungskonzept auf Burg Neuhaus auch das Interesse der „Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung“ in Frankfurt geweckt. Herr Trott schildert 1953 einen ausgefüllten Heimalltag.

Fazit zum Jena-Plan

In der Burg Neuhaus, wo 10 Jahre vor der Gründung der Heimschule noch in der nationalsozialistischen „Reichsschule des Reichsnährstandes für Leibeserziehungen“ junge Menschen gedrillt und ideologisch manipuliert wurden, schufen Willy Trott, Pädagog*innen und gleichgesinnte Erzieher*innen für die durch den Krieg entwurzelten Waisenkinder und später für Kinder aus benachteiligten Elternhäusern eine verlässliche neue Heimat.

Der frische Wind, der überkommene Erziehungsstrukturen wegblies, schuf Platz für ein soziales Umfeld, in dem die Heimkinder eine eigene Identität und Selbstständigkeit entwickeln konnten.

Die Schaffung von Familiengruppen nach dem Vorbild der SOS-Kinderdörfer, der Jena-Plan als optimales Erziehungskonzept und das unermüdliche Engagement der Erzieher*innen und Mitarbeiter*innen auf Burg Neuhaus waren Garanten für den überregionalen guten Ruf dieser Heimschule.

Willy Trott resümierte 1953:

„Von Besuchern wird der Frohsinn und die Offenheit und das vertrauende Entgegenkommen unserer Kinder als sofort auffallend festgestellt.“ 10)

Dem ist nichts hinzuzufügen!

Löffler 1948 Wir Burgkinder

Literaturhinweise:

1) Petersen, Peter: Der Kleine Jena-Plan, Berlin/Leipzig, 1946, S.8

2) ebd. S.9

3) Petersen, Peter: Pädagogik der Gegenwart. Ein Handbuch der neuen Erziehungswissenschaften und Pädagogik, Berlin 1937, S. 14

4) ebd. S. 37

5) ebd. S. 37

6) Löding, Irmgard: Burg Neuhaus, 1945 – 1963, Berlin 1991, Broschüre, S. 46

7) Petersen, Peter: Pädagogik der Gegenwart …, S. 33

8) vergl. Scheders, Franz: Die Grundlagen der körperlichen Erziehung, o.O.1935

9) Trott, Willy: Brief an Herbert Chiout, Hochschule für Internationale Forschung, Frankfurt/Main

10) ebd.

Einweisungspraxis in das Heim

Ab 1949 waren keine neuen Flüchtlingswaisen mehr im Landkreis Helmstedt angekommen und so wandelte sich die Heimschule zu einer Einrichtung für Kinder aus benachteiligten Familien.

In den 60er Jahren wurden überwiegend Kinder im Rahmen des Jugendwohlfahrtgesetzes in das Heim eingewiesen. Im Laufe der 70er Jahre ist es zu einer Verschiebung der rechtlichen Einweisungsgründe gekommen. Es gab zwei Gründe für Heimeinweisungen durch das Jugendamt: Erstens die freiwillige Erziehungshilfe. Sie lag vor, wenn eine Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen und seelischen Entwicklung festgestellt wurde. Und zweitens die Führsorgeerziehung. Sie war gegeben, wenn die Verwahrlosung eines Kindes in der Familie drohte.

Umbau der Burg 1955-1959

1955 wurde die Burg Neuhaus nach 8jähriger Pachtzeit von der Landwirtschaftskammer Hannover an den Landkreis Helmstedt verkauft, so dass es nun möglich war, die Innenräume zu renovieren und zu erweitern. Damals prognostizierte Willy Trott: „Da die Heimschule Burg Neuhaus das einzige kreiseigene Erziehungsheim des Landkreises Helmstedt ist, wird es immer mit 70 Plätzen voll belegt sein.“  Mit der Planung wurde der Architekt und Braunschweiger Baudirektor Dr. Kurt Piepenschneider (*1901 + 1956) beauftragt.

In der Burg wurden vier in sich abgeschlossene helle, freundliche Familien-Wohnbereiche gebaut. Möglich wurde dies durch einen vorgezogenen Säulengang, mit dem eine Verbreiterung des oberen Stockwerkes erfolgte. Nun fanden die 4 Gruppen mit 15 Kindern und einer Familienmutter genügend Platz, der nach dem Vorbild der SOS-Kinderdörfer dringend nötig war. Im Heim erhöhte sich die Anzahl der zu beschulenden Kinder und der Raumbedarf stieg, wollte man die Reformpädagogik Petersens im Unterricht vollständig umsetzen. Deshalb plante und baute man parallel zur Heimerweiterung eine Schule, deren Fertigstellung noch vor dem Umbau der Burg erfolgte.

Eine gemeinsame Schule für Heim und Dorf 1956/57

Die Grundsteinlegung der Volksschule erfolgte am 27. September 1956. Der Landkreis Helmstedt und die Gemeinde Neuhaus schlossen sich zu einem Zweckverband zusammen. Sie planten und bauten im Burgpark eine achtklassige Volksschule für Heim- und Dorfkinder. Heimleiter Willy Trott und Irmgard Löding (geb. Stapp) beide Jena-Plan-Pädagogen konnten mit dem Vorsfelder Architekten Rolf Nolting (*1926 + 1995) viele Forderungen, wie sie Peter Petersen in „Der kleine Jena-Plan“ skizziert hat, einbringen. Klassen- und Gruppenräume, sowie ein Fachraum für Physik, Chemie, Werken, Musikunterricht und Textiles Gestalten wurden eingerichtet. Die Eingangshalle wurde so großzügig gebaut, dass der „Montagskreis“ hier abgehalten werden konnte. Große Fensterflächen sorgen für Licht und Luft, sowie für Beobachtungsmöglichkeiten der Natur. Die Bauarbeiten wurden sogar in einem selbstgestalteten Buch durch die Heimkinder unter der Anleitung von Frau Löding dokumentiert.

Die Vorderseite des selbstgestalteten Buchs anlässlich der neuen Schule.

Blättern Sie durch das mit großem Aufwand gestaltete Buch der Heimkinder:

Dieses Buch ist Eigentum des Archivs des Freundeskreises der Burg Neuhaus e.V. Der Download ist ausschließlich zum Lesen freigegeben, jede Vervielfältigung des PDFs/Buchs ist untersagt.

Bereits am 25. Mai 1957 begann der Unterricht in den neuen Klassenräumen. Doch mitten in der Bauphase verließ Willy Trott die Einrichtung zusammen mit seiner Frau Theresia, die als Wirtschaftsleiterin im Heim tätig war. Das Aushängeschild für die Jena-Plan-Pädagogik verließ Neuhaus. In den Akten des Staatsarchivs Wolfenbüttel (94 N Nr. 451) finden sich die Beweggründe für Trotts Weggang. Bereits am 3. August 1953 wurde Willy Trott bei Oberkreisdirektor Dr. Conrady vorstellig und teilte ihm mit, dass „es ihm auf die Dauer nicht länger möglich sei, in Neuhaus gleichzeitig die pädagogischen Aufgaben und darüber hinaus als Heimleiter tätig zu sein. Er sei deshalb nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, dass er den ihm vom Landkreis Helmstedt übertragenen Posten zum 1.4.1954 zur Verfügung stellen müsse.“

Diese Ankündigung löste ein kleines Erdbeben aus, denn nun war die ganze Heimschule und deren Fortführung in Frage gestellt. Am 30. Nov. 1955 empfahl jedoch der Haupt- und Finanzausschuss dem Kreistag die Fortführung der Heimschule Burg Neuhaus auch nach Ausscheiden des bisherigen Leiters.

Nun musste jemand gefunden werden, der einerseits Trotts Werk fortführt und andererseits bereit war, während der Bau- und Umbauphase nach Neuhaus zu kommen.