1947 – 1980
Erziehung durch Bildung
Die Ausstellung im Überblick
- Teil 1: Aus der Not geboren – Heimschule für Flüchtlingswaisenkinder
- Teil 2: Neuer Wind in alten Mauern – Willy Trott und der Jena-Plan
- Teil 3: Viel Licht und mehr Raum – Die neue Schule und die umgestaltete Burg
- Teil 4: Heim-Schul-Alltag – Zeitzeugenberichte mit vielen Fotos
Einleitung
Diese Ausstellung erzählt die Geschichte der Heimschule auf Burg Neuhaus bei Wolfsburg. Sie wurde 1947 als Schule für Flüchtlingswaisenkinder eingerichtet und 1980 als Schulheim für Kinder aus benachteiligten Familien geschlossen. Circa 2000 Kinder haben in der Abgeschiedenheit von Burg Neuhaus ihre Kindheit und Jugend verbracht – es wird nun Zeit zurückzublicken und eine Forschungslücke in der 650jährigen Geschichte der Burg Neuhaus zu schließen.
Das Wort Heimerziehung löst bei vielen Menschen negative Emotionen aus. Verwahrung und Gewaltanwendung sind assoziierte Begriffe, aber die vielen Berichte und Dokumente, die wir in dieser Ausstellung zugänglich machen, sprechen für die Heimschule auf Burg Neuhaus eine andere Sprache.
„Leider ist für uns nun die schöne Zeit zu Ende. Es gab viele Stunden, die wir hier zusammen erlebt haben. Nicht nur draußen in der Natur, sondern auch in der Schule, wenn wir vor unseren Heften und Büchern saßen und mit unseren Gedanken viele Millionen Lichtjahre entfernt bei großen Sonnen und Sternen waren. … Wir wollen uns bei unseren Lehrern und Erziehern bedanken, die alle für uns gearbeitet und geschafft haben. Sie haben mit uns manche Schwierigkeiten gehabt, denn sie waren immer besorgt, dass wir am Ende der Schulzeit genug wissen, um im Leben gut vorwärts zu kommen. Sie haben uns viel aus dem Weg geräumt, mit dem wir vielleicht nicht fertig geworden wären. Wir werden uns bemühen, Sie alle nicht zu enttäuschen.“
Schülerrede anlässlich der Schulentlassungsfeier 1961
Alle nicht gekennzeichneten Fotos sind
im Besitz des Freundeskreises Burg Neuhaus.
Das Heim wurde 1947 vom Landkreis Helmstedt ohne konfessionelle Bindung gegründet. Die zugrundeliegende Idee, Förderung und Erziehung durch Familiengruppen nach dem Vorbild der SOS-Kinderdörfer und Bildung mit dem reformpädagogischen Jena-Plan, blieb über Jahre oberstes Ziel. Es half vielen Kindern nach einem schlechten Start ins Leben doch noch einen Schulabschluss und anschließende Berufsausbildung zu erlangen und ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Das Heim bot für die meisten Kinder und Jugendlichen einen geschützten Rückzugsort. Der von Beginn reformpädagogische Schulunterricht förderte gemeinschaftliches Zusammenarbeiten und Zusammenleben und bot den Kindern Orientierung und Perspektive. Erst in den 70er Jahren konnte sich das Heim nicht weiter entwickeln, weil für die personelle Ausstattung zu wenig Mittel zur Verfügung standen und eine Modernisierung des Heimes in der Burg durch den Landkreis Helmstedt nicht finanzierbar war.
Konzept und Texte erstellten Elke Fuchs M.A. (Historikerin) und Heinrich Oys (Lehrer i.R.), die beide das Archiv des Freundeskreises betreuen. Die Fotos wurden von Frank Wolters (1. Vors. des Freundeskreises) gescannt. Annika Buntzoll hat das Layout gestaltet. Unser Dank gilt allen, die zu dieser Ausstellung beigetragen haben.
Heinrich Oys und Elke Fuchs
Aus der Not geboren – Heimschule für Flüchtlingswaisenkinder
Bei Kriegsende im Chaos von Flucht und Vertreibung waren ca. 12 Millionen Menschen in Europa auf der Suche nach einer sicheren Unterkunft, sei es als kurzfristige Herberge oder als neuer Lebensmittelpunkt. Burg Neuhaus gehörte während dieser Zeit zum Landkreis Helmstedt und unterstand der britischen Militärregierung. Mit Kriegsende lag dieser Kreis unmittelbar an der Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ).
Hier trafen gewaltige Flüchtlingsströme aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ein. Bis 1948 nahm der Landkreis Helmstedt in provisorischen Auffanglagern 1,23 Mill. Flüchtlinge auf. Es kam zu kritischen Situationen bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge. Vor allem die Unterbringung unbegleiteter Kinder und Jugendlicher musste geklärt werden. Hier bot sich die Burg Neuhaus an, die während der NS-Zeit in ein NS-Schulungszentrum umgebaut worden war und deshalb über geeignete Wohnräume für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen verfügte.
Bereits 1946 wurde in der Burg eine Jugendherberge vom Land Braunschweig eingerichtet. Im August fand ein erstes Ferienlager des Kreises Helmstedt unter Leitung des Kreistagsabgeordneten Germer statt. Im Oktober 1946 wurde ein erster Kreisjugendtag auf der Burg Neuhaus mit 320 Jugendlichen unter Leitung von Kreisjugendpfleger Rogoll organisiert. (Anm. Leider konnten Vornamen und Lebensdaten von handelnden Personen in einigen Fällen nicht ermittelt werden.)
Karte In: Der Landkreis Helmstedt S. 8/9 – Zum Vergrößern bitte klicken.
Nachdem unterschiedliche Vorstellungen über die Verwendung der Burg Neuhaus von britischer Militärregierung, Land Braunschweig und Landkreis Helmstedt diskutiert worden waren, entschied man sich auf Burg Neuhaus so schnell wie möglich eine Heimschule für Flüchtlingswaisenkinder zu schaffen. Die für den Winter 1946 geplante Eröffnung scheiterte, weil für die Heizung keine Kohlen zur Verfügung standen.
Die Heimschule Burg Neuhaus
wurde in schwerster Zeit durch den
Landkreis Helmstedt
unter wesentlicher Förderung der im
Kreiswohlfahrtsausschuss vertretenen
freien Wohlfahrtsverbänden als
Heimat für Flüchtlingswaisenkinder
geschaffen. 1945
Wandtafel mit Textabschrift, hier irrtümliche Angaben zur Eröffnung
Eröffnung der Heimschule
Am 10. April 1947 konnte die Heimschule für Flüchtlingswaisenkinder eröffnet werden. Die Aufnahme von 35 Kindern, 16 Mädchen und 19 Jungen, im Alter von 7-14 Jahren erfolgte in zwei Gruppen (1-4. und 5.-8. Klasse). Zu diesem Zeitpunkt bestand in Deutschland eine achtjährige Schulpflicht. Im Staatsarchiv Wolfenbüttel (94N-457) befindet sich eine erste Einschulungsliste.
Bevor man sich ums Lernen kümmern konnte, mussten die Kinder und Lehrer*innen, die gleichzeitig die Heimerzieher*innen waren, zunächst die Probleme des täglichen Überlebens lösen. So musste anfangs das Essen im Heim durch Kartoffeln- und Beerensammeln aufgestockt werden, auch „Bettelfahrten“ bei den Bauern der umliegenden Dörfer wurden unternommen, brachten aber wenig Erfolg. Während der abendlichen Stromsperren stand eine einzige Petroleumleuchte zur Verfügung. Die Kinder gingen nachmittags zum Holzsammeln in den Wald, damit konnte abends im Turmzimmer (heute Museumsraum) der Kamin befeuert werden. Hier erfuhren die Kinder beim Geschichtenerzählen und Singen Gemeinschaft und Zusammenhalt nach ihren traumatischen Fluchterlebnissen.
Aber auch noch in späteren Jahren halfen die Heimschulkinder bei der Feldarbeit und der Ernte und verdienten sich so ein kleines Taschengeld. Der Alltag der Kinder ist auf zahlreichen Fotos dokumentiert.
Erster Heimleiter und Lehrer war Otto Siegmund, der die Erwartungen der Kreisverwaltung in Helmstedt nicht erfüllte und die Schule nach 10 Monaten am 31.1.1948 wieder verlassen musste. Über ihn ist uns nur bekannt, dass er die 5.-8. Klassenstufe unterrichtete.
Die Frau der ersten Stunde war Irmgard Löding (geb. Stapp). Sie war als Jugendleiterin eingestellt worden, unterrichtete aber die Klassenstufe 1-4, da die angekündigte Lehrerin nicht eintraf. Als im Herbst 1948 dann doch eine neue Lehrerin, Berta Voigt, ihren Dienst antrat, wechselte sie wieder als Jugendleiterin ins Heim. Sie heiratete 1949 den Neuhäuser Landwirt Walter Löding, dessen Hof gegenüber der Burg lag, heute das Hotel und Restaurant „An der Wasserburg“. Ab 1.10.1953 arbeitete sie wieder als Lehrerin der 5.-8. Klassenstufe in der Heimschule und wurde 1959 als Lehrerin verbeamtet. Sie hat 1991 einen Bericht über die Anfangszeit der Heimschule verfasst, der einen tiefen Einblick in diese Einrichtung gewährt.
1951, 6 Jahre nach Kriegsende, erhielt die Heimschule eine Spende in Höhe von 5.000,00 DM für Einrichtungsgegenstände vom High Commissioner für Deutschland, John J. McCloy. Welche elementaren Einrichtungsgegenstände damit gekauft wurden, zeigt die Vorschlagsliste für die McCloy-Spende.