Zusammenfassung des Interviews mit Petra Wiedemann geb. Schultz

vom 8.3.2010 geführt von Leuthold Aulig, Heinrich Oys und Elke Fuchs

Volksschullehrerin 1966-1971 in Neuhaus, wohnhaft in Neuhaus von 1966-1975. Frau Wiedemann wohnt heute in Danndorf.

Nach Abschluss eines Pädagogikstudiums in Braunschweig erhielt Petra Wiedemann 1966 eine Anstellung als Lehrerin an der Volksschule Neuhaus mit Kindern aus dem „Internat Burg Neuhaus“, wie der Schulrat ihr offerierte. Die Realität sah dann anders aus. Viele verhaltensauffällige Kinder mit starken Aggressionen lebten im Schulheim Burg Neuhaus und besuchten die Volksschule Neuhaus. Nicht alle Kinder durften am Nachmittag das Heim verlassen, um mit den Dorfkindern zu spielen.  Es gab auch immer wieder Ausreißer*innen, die nach einigen Tagen von der Polizei zurückgebracht wurden. Um Aggressionen abzubauen, ließ sie die Schüler*innen häufig um die Schule laufen und stoppte die Zeit. Falls sie den Eindruck hatte, sie hätten sich noch nicht beruhigt, ließ sie die nächste Runde laufen. Frau Wiedemann durfte nur die Unterstufe unterrichten, die höheren Jahrgänge waren dem Schulleiter Hermann Achilles vorbehalten. Wenn neue Schüler*innen in die Schule kamen, musste erst einmal die neue Rangordnung ausgefochten werden. Dabei kam es zu massiven Schlägereinen, bei denen der damalige Schulleiter Hermann Achilles mit seiner „ganzen Manneskraft“ dazwischen gehen musste, um Schlimmeres zu verhindern. Achilles musste auch das Defizit an männlichen Erziehern im Heim ausgleichen und unterrichtete die Schüler*innen sehr praxisbezogen. Häufig ging er mit den Jugendlichen in die Natur und begeisterte sie mit seinen Naturbeobachtungen, Lagerfeuer und Schnitzarbeiten. Die Lage der Schule mit Burgpark, Teich, Streuobstwiese und baumbestandenem Pausenhof förderte die Beschäftigung mit der Natur. Achilles war im Erstberuf Tischler und legte viel Wert auf die Vorbereitung der Jungen auf praktische Dinge, mit denen sie sich später im Leben immer wieder selbst helfen konnten. Er schafft auch Schafe an, um das Gelände zu pflegen und als Anschauungsobjekte für die SchülerInnen.  

Frau Wiedemanns Engagement ging ebenfalls über den Unterricht hinaus. Nach Schulschluss gab sie förderungswürdigen Kindern Nachhilfeunterricht. Sie bekam auch häufig Besuch in ihrer Wohnung von den Mädchen des Heimes. Die älteren Mädchen des Heimes wurden angehalten im Heim zu putzen und auch die Schule sauber zu halten. Das funktionierte sehr gut, wie Frau Wiedemann betonte.

Die Kinder des Heimes kamen aus der gesamten Region, wurden von den Jugendämtern eingewiesen, wenn ein gemeinsames Leben in der Familie nicht mehr möglich war. Die Verweildauer der Kinder war sehr unterschiedlich und reichte von ein paar Monaten bis zu mehreren Jahren, manche blieben bis zum Eintritt ins Berufsleben. Die Schule für die Heimkinder war von Klasse 1-9 die Volksschule Neuhaus. Die Dorfkinder gingen ab Klasse 5 in die Mittelpunktschule Moorkämpe in der Südstadt in Vorsfelde. Der Versuch, einer Gruppe von begabten Heimkindern den Volksschulabschluss in der Moorkämpeschule zu ermöglichen, scheiterte. Die Kinder standen nach einer Woche wieder in der Volksschule in Neuhaus und wollten wie bisher von Herrn Achilles unterrichtet werden. (Anm.: Ab 1974, mit Einführung der Orientierungsstufe, mussten alle Kinder ab der 5. Klasse in anderen Schulen beschult werden. Die Kinder gingen dann entweder zum Schulzentrum Vorsfelde oder zu der zur Kath. Eichendorffschule in Wolfsburg.) Zu Frau Wiedemanns Zeit musste das Heim eine Gruppe von zehn nicht schulpflichtigen Kindern aufnehmen, für diese wurde damals temporär ein Kindergarten eingerichtet.

Die Schüler*innen konnten in der Volksschule Neuhaus nicht mehr nach dem Jena-Plan unterrichtet werden, dazu fehlten geeignete Lehrer*innen. Im Pädagogikstudium wurden nun andere Schwerpunkte gesetzt, der Jena-Plan war nur noch eine Fußnote. Nun gab es Unterricht, bei dem jahrgangsübergreifend in kombinierten Klassen unterrichtet wurde. Auch hier stand das soziale Lernen – die Stärkeren helfen den Schwächeren – und selbständiges Lernen im Mittelpunkt. Es gab in der Schule, dies behielt man aus der Jena-Plan-Zeit bei, keine Pausenglocke. Das Stundenende richtete sich nach dem individuellen Lerntempo der Klasse. Die Schulbrote wurden für die Burgkinder in einem Korb mitgebracht. Die Schulmilch wurden von den Bauern Günter und August Hauptmeyer angeliefert, die morgens die Milchkannen bei den Bäuer*innen einsammelten und zur Molkerei nach Vorsfelde brachten und auf dem Rückweg die Schule belieferten. In der Neuhäuser Volksschule gab es bis 1994 zwei Klassenräume und einen Gruppenraum in denen je 3 Jahrgänge zusammen unterrichtet wurden. Ein weiterer Klassenraum befand sich noch in der Burg, heute der EG-Raum des Kindergartens.

Um den Kindern eine Schulfahrt zu ermöglichen, organisierten Hermann Achilles (Schulleiter 1963 – 1987) und Petra Wiedemann ab 1967 mit Hilfe des Stadtjugendpflegers in Braunschweig eine Woche Zeltlager in Lenste/Ostsee. Dort hatte die Stadt Braunschweig ein Zeltlager – ein Ereignis für alle Kinder ab der 3. Klasse. Die meisten von ihnen kannten keinen Urlaub. Bis ca. 1972 fanden diese Fahrten mit ca. 40 Kindern und Jugendlichen statt. Die Betreuung dieser Jugendlichen war eine große Herausforderung für die beiden Lehrkräfte. Die Heimkinder mussten rund um die Uhr beaufsichtigt und beschäftigt werden. Sport- und Schwimmabzeichen wurden abgenommen. Das Heim unterstützte die Fahrten, indem sie den Kindern Weihnachten eine Reisetasche und im nächsten Jahr einen Schlafsack schenkte. Anfangs fuhren sie mit Kisten und grauen Jugendherbergsdecken. Die Lehrkräfte erhielten das Taschengeld zur Verwahrung, weil den Kindern eine eigenständige Verwaltung nicht zugetraut wurde.

Die Zusammenarbeit zwischen Heim und Schule lief meistens reibungslos – auch auf zwischenmenschlicher Basis. So erfolgten Einladungen zu Feiern auf der Burg u. a. auch dem besonders feierlich begangenen Adventskaffee. Man traf sich manchmal auch einfach unter der Eiche im Innenhof zum Singen mit Gitarrenbegleitung.

Auch das Adventsspiel und später das Weihnachtsmärchen initiierten 1967 die beiden Lehrkräfte. Da die Mittel der Schule sehr eingeschränkt waren, bedurfte es besonderem Engagement und großer Kreativität. Die Kostüme wurden in Neuhaus selbst genäht, Requisiten und Kulissen wurden gebaut oder organisiert. Diese Weihnachtsmärchen begeisterten die Kinder und forderten sie besonders heraus. Aber alle wuchsen mit ihren Aufgaben und das ganze Dorf half mit und feierte die Aufführung und die Protagonisten. Die Aufführungen fanden in der Sporthalle statt, das Podest war von Herr Achilles eigens gebaut, der Vorhang von Frau Wiedemann selbst genäht.

Der 1. Advent wurde in der Burg immer besonders feierlich begangen. Morgens blieb das Licht aus und im Kerzenschein wandelten die Kinder in den festlich geschmückten Rittersaal. Die Kinder trugen Gedichte vor, Weihnachtslieder wurden gesungen und Weihnachtsgeschichten vorgelesen. Dann gingen die Kinder wieder zum gemeinsamen Frühstück in ihre Familiengruppen. Dort hatten sie auch einen Adventskalender und eine Krippe. Für viele Heimkinder war dies eine völlig neue Erfahrung. Die Heimleiterin Anneliese Denner (Heimleiterin von 1963-68) hat für jedes der 60 Heimkinder einen Nikolausbrief verfasst. Sie ist darin auf jedes Kind und dessen Situation eingegangen. Die Kinder, die Weihnachten nicht nach Hause konnten, feierten das Fest in einer Gruppe in der Burg mit Tannenbaum, Geschenken und gutem Essen.

Frau Wiedemann erinnerte sich an die oft schwierige personelle Situation unter den Gruppenleiter*innen. Diese arbeiteten rund um die Uhr in ihren Familiengruppen nach dem Vorbild der SOS-Kinderdörfer. Neben dem Gruppenraum hatten sie ein privat genutztes Zimmer.  Einzig ein 3wöchiger Urlaub brachte für sie etwas Erholung. Alle waren ledig, lebten und arbeiteten z.T. Jahrzehnte auf Burg Neuhaus. Nur wenige Mitarbeiter*innen hatten ein Privatleben außerhalb der Burg. Personelle Unterstützung erhielten sie durch Praktikant*innen, deren Einsatz aber zeitlich begrenzt war. Erst Mitte der 70er Jahre wurde im Burgpark neben dem Schulgelände (Anm.: Heute Burgallee Nr. 12) ein sogenanntes „Erzieherinnenhaus“ gebaut, mit kleinen Apartments und zwei größeren Wohnungen, die den Erzieher*innen einen kleinen Freiraum nach der Arbeit im Heim ermöglichte.

Es bestanden 4 gemischte Familiengruppen mit einem Gruppenraum für das gemeinsame Essen und die Hausaufgaben. Dazu gab es 2 Jungenschlafräume, ein Mädchenschlafraum und den privaten Raum für die „Gruppenmutter“. Die Burgvögte wurden von Frau Exner geleitet, die Wölfe von Frau Vogel, die Schwalben von Frau Rakow und die Bienen von Frau Stich. Als Hauswirtschaftsleiterin fungierte Frau Assmann. Ihr zur Seite standen einige Helferinnen. Neben der Küche gab es eine Nähstube, da zu der Zeit Kleidung weitergegeben und nur selten neue Kleidung in Vorsfelde bei der Firma Mellin (Anm.: Bekleidungsgeschäft in der Langen Straße, heute NKD) gekauft werden konnte. Neben der Küche befand sich auch eine Wäschekammer, in der Wäscheberge nach Kleidergrößen oder Gruppenzugehörigkeit sortiert und Flicksachen aussortiert wurden. Die Kinder mussten die gewaschene Kleidung dort abholen, aber auch noch tragbare nicht mehr passende Kleidung zurückgeben.

Als Hausarzt für die Burgkinder fungierte Dr. Schulze in Vorsfelde. Darüber hinaus wurden die Kinder vom Amtsarzt in Helmstedt untersucht und betreut.  Ein häufiger Gast waren Kopfläuse, die mit Nissenkämmen und Tinkturen bekämpft wurden. Alle Mützen wurden dann auf dem Hof verbrannt.

Die Heimkinder bekamen selten Besuch von ihren Eltern, von denen manche Besuchsverbot hatten. Trotz schwierigster Situation im Elternhaus freuten sie sich besonders auf die Besuche zuhause.