Die letzten Jahre im Schulheim Burg Neuhaus 1977-1980

In dem Bericht „Schulheim Burg Neuhaus – Die letzten Jahre – 1977-1979/80“ schildert die damals 25jährige Ileana Dorothea Becker, ihre Erlebnisse als Erzieherin auf Burg Neuhaus. Frau Becker hatte das erste Staatsexamen als Lehrerin für Grund- und Hauptschulen abgeschlossen und einen Au-pair Dienst in Kanada hinter sich, als sie ihre erste Stelle als Erzieherin in der Schwalbengruppe im Schulheim Burg Neuhaus antrat. Unterricht erteilte sie nicht, denn die jüngeren Heimkinder gingen in die Grundschule Neuhaus und die Älteren Kinder gingen zum größten Teil in das Schulzentrum Vorsfelde.

Tagesablauf

Die Kinder wurden bereits um 6.00 Uhr geweckt, wurden zum Duschen geschickt, danach gab es Frühstück. Die Kinder mussten dann die Betten machen, die Schlafräume fegen, die Waschräume reinigen und die Tische abwischen, bevor die Kleinen in die Schule gingen und die Größeren mit dem Bus in die Schule fuhren. Auch nach der Schule mussten die Heimkinder nach dem Mittagessen verschiedene Dienste versehen, Abräumen, Abwaschen und Abtrocknen, Transportgeschirr zurück in die zentrale Küche bringen, Tische reinigen und anschließend die Hausaufgaben machen. Hier konnte Frau Becker ihre Kenntnisse als Lehrerin sehr gut einbringen: Unterstützung der Kinder bei den Hausaufgaben, Vokabeln lernen, Nachhilfe erteilen. Sie übernahm nach und nach die Zusammenarbeit zwischen Heim und den Lehrer*innen in den verschiedenen Schulen, besuchte Elternabende und Elternsprechtage.   

Im heutigen Kindergarten waren die „Schwalben“, 9 Jungen und 5 Mädchen zwischen 10 und 18 Jahren, untergebracht, hier trat Frau Becker ihren Dienst an. Von den meisten Kindern wurde sie liebevoll „Beckerchen“ genannt. Bei den „Schwalben“ war Frau Rakow als Gruppenmutter tätig. Sie stand kurz vor der Pensionierung, war aber zu dieser Zeit sehr häufig krank. Die vielen Jahre auf Burg Neuhaus hatten gesundheitliche Spuren hinterlassen. Wegen der vielen Fehlzeiten von Frau Rakow war eine 40-Stunden-Woche nicht möglich, so berichtet Frau Becker von vielen Diensten, die an die Grenze der Erschöpfung gingen. Durch den geringen Altersunterschied, 2 Jungen waren bereits 18 und Frau Becker erst 25 Jahre alt, hatte sie in der Anfangszeit große Probleme mit der Akzeptanz und dem Durchsetzungsvermögen. So berichtet sie, dass sie einen Schüler eingesperrt habe, als sie nicht mehr wusste, wie sie auf sein aggressives Verhalten reagieren sollte. Dies macht deutlich, dass zu wenig und nicht gut genug ausgebildetes Personal auf Burg Neuhaus vorhanden war.  

Frau Becker schilderte auch, wie schwer es war, die Kinder zum Helfen bei den Diensten und im Garten zu motivieren. Aufgrund der Abgeschiedenheit des Heimes wurde an freien Tagen auch schon mal nachmittags Fernsehen geschaut. Der Fernseher als Tagesbeschäftigung missfiel Frau Becker sehr. Sie baute einen kleinen Singkreis auf und begleitet die Kinder mit der Gitarre. Dabei machten aber nur die Kleinen und die Mädchen mit.

Frau Becker macht sich in ihren Tagebuchaufzeichnungen sehr viele Gedanken über das auffällige Verhalten ihrer Anvertrauten. Sie reflektiert über ihr eigenes Handeln und versucht sich in die Kinder hineinzuversetzen. Sie ist voller Verständnis, Mitgefühl und überlegt sich Strategien zur Konfliktbewältigung. Unterstützt wurden alle Erzieher*innen durch die wöchentlich angebotene Supervision eines/einer Psycholog*in. Frau Becker beschreibt aber auch besondere Vorfälle mit den Jugendlichen, so musste Sie regelmäßig Jugendliche aus der Disco am Parkweg holen, die sich dort nach 22 Uhr nicht mehr aufhalten durften. Einmal suchte sie ein verschwundenes Mädchen, das mit einem Jungen im Freien draußen campierte. Dieser Fall brachte große Aufregung im Heim inclusive eines Schwangerschaftstests. Ein Junge aus ihrer Gruppe wurde nach wiederholtem Ladendiebstahl von der Polizei in die JVA Braunschweig gebracht, der Junge bat sie, ihn zu begleiten. Sie hat den Kontakt mit dem Jungen nicht weiter aufrecht halten können, weil er nicht mehr in das Heim auf Burg Neuhaus kam.

Frau Becker bewohnte ein eigenes Appartement in dem 1975 neu erbauten Erzieher*innenhaus, heute Burgallee 12. Hier war es möglich, eine Privatsphäre aufzubauen und sich in der Freizeit zurückzuziehen. Das war bis dahin für das Erziehungspersonal nicht möglich. Allerdings war Freizeit ein rares Gut, nach zwei Wochen auf Burg Neuhaus hatte Frau Becker eine tägliche Arbeitszeit von 10 Stunden und 23 offizielle Überstunden durch zu viele Nacht- und Vertretungsdienste. Die angespannte Personalsituation bemängelte schon die vormalige Heimleiterin Frau Denner 1966 in einem Schreiben an das Jugendamt: „Trotz der erheblichen Steigerung der personellen Kosten hat die Personalsituation im erzieherischen Bereich die Grenze des vertretbaren überschritten, so daß nach neuen Wegen gesucht werden muß, …  die Personalsituation im erzieherischen Bereich so zu verbessern, daß die ständige Überforderung der pädagogischen Fachkräfte beseitigt wird.“ Aus verschiedenen Schreiben aber vor allem auch aus dem Bericht von Frau Becker geht hervor, dass Raubbau an den Gruppenmüttern und dem erzieherischen Personal betrieben wurde. Eine Anstellung auf Burg Neuhaus bedeutete in der damaligen Zeit Aufopferung. So bat Frau Denner in dem oben genannten Schreiben um die Genehmigung nach geeigneten Erziehungshelferinnen zu suchen. In Frage kämen dabei „kinderlose Frauen, die eine Lebensaufgabe suchen, Frauen, deren Ehe durch Verwitwung oder Scheidung aufgehoben ist, ledige Frauen usw.“.

Frau Becker heiratete und verließ während ihres Mutterschaftsurlaubs das Heim, das sich bereits in Auflösung befand. Sie analysierte den Wandel im Heim, die „wärmende Hülle“ der früheren Jahre, wie sie es in ihrem Bericht von 2006 nannte. „…  Sommerfahrten, Faschingsfeste, Theaterstücke, gemeinsame Feste von Dorf- und Heimbewohnern, Wandern, Gruppenspiele in der Natur, gemeinsame Lebensfreude … dies fehlte in der Endphase des Schulheimes Burg Neuhaus.“

(Der Bericht und das Schreiben an das Jugendamt von Fr. Denner sind im Archiv des Freundeskreises Burg Neuhaus vorhanden. Zusammenfassung Elke Fuchs)